Innovation anstatt Monopolfalle

Die Industrie ist in Zugzwang: Die Liste der Lieferkettenengpässe scheint kein Ende zu nehmen, was nicht nur auf externe Schocks zurückzuführen ist, die wieder verpuffen, sondern in der Natur von Abhängigkeiten liegt, die die Unternehmen aufgebaut haben.

Michael F. Strohmer
Partner & Managing Director
KEARNEY

Enge Spezifikationen binden sie an wenige Lieferanten, die damit eine Monopolstellung einnehmen. Das bedeutet für die Unternehmen im Umkehrschluss geringe Flexibilität, grösseres Risiko und höhere Preise. Und was vielleicht noch gravierender ist: Aus der Bindung an die Lieferanten werden die Unternehmen innovationsschwach, weil sie den Markt und die Zuliefererkonkurrenz nicht mehr beobachten. Sie sind in der Monopolfalle gelandet. Zwei Drittel der Monopolfallen sind hausgemacht. Wer sie vermeiden will, muss in den frühen Stufen der Wertschöpfung ansetzen, beispielsweise während des Produktentwicklungsprozesses. «Design for Sourcing» ist ein solcher Ansatz.

Ein Platz am Tisch

Die Idee von «Design for Sourcing» ist denkbar einfach: Der Einkauf erhält bereits in der Produktentwicklungsphase einen Platz am Tisch, darf mitreden und Einfluss nehmen.

Es geht darum, Ideen zu entwickeln, wie der eigene Bedarf optimiert werden kann, Kosten zu sparen und Qualität zu sichern, und das in funktionsübergreifender Zusammenarbeit mit Forschung und Entwicklung, Vertrieb und Produktion. «Design for Sourcing» will vor allem die Beschaffbarkeit optimieren und die Kosten reduzieren:

  • Produktspezifikationen wie Toleranzen oder Materialauswahl entscheiden mit darüber, wie leicht oder schwer ein Produkt zu beschaffen ist. «Design for Sourcing» lockert die oft engen Spezifikationen. Neue Lieferanten können einfacher ins Spiel gebracht werden, der Druck auf etablierte Lieferanten kann erhöht werden − stets mit dem Ziel, Multi-Sourcing zu gewährleisten.
  • «Design for Sourcing» deckt auf, an welchen Stellen Kosten gespart werden können. Es ermöglicht faktenbasierte Verhandlungen mit etablierten Lieferanten, lässt Spielraum für neue Ideen zur Produkt- und Prozessverbesserung und hilft, neue Lieferanten zu identifizieren.

«Design for Sourcing»-Ideen entstehen in der Regel im Rahmen von Warengruppenstrategien, Lieferanteninitiativen oder Produktentwicklungen. Bevor ein «Design for Sourcing»-Projekt durchgeführt wird, müssen quantitative und qualitative Analysen durchlaufen werden, um zu validieren, ob eine Initiative mit «Design for Sourcing» vereinbar ist. Ausserdem muss sichergestellt werden, dass genügend sowie die richtigen Ressourcen zur Verfügung stehen. Bei der anschliessenden Durchführung müssen alle involvierten Abteilungen eng zusammenarbeiten. Wie erfolgreich das Projekt am Ende sein wird, hängt davon ab, welche Entscheidungen bezüglich Ownership, Ressourcen und Verantwortung getroffen werden.

Eine Frage der Rolle

Oft ist der Einkauf überhaupt nicht − oder nicht früh genug − in den Produktentwicklungsprozess einbezogen. Wir haben mit mehreren Entwicklungs- und Einkaufsabteilungen von Industrieunternehmen und Automobilherstellern gesprochen und sehen folgende Ansatzpunkte:

  1. Der Einkauf ist das Sprachrohr, der das Wissen und die Perspektiven der Zulieferer in Bezug auf neue Technologien und Roadmaps sammelt.
  2. Eine der Hauptaufgaben des Einkaufs ist die Festlegung von Zielkosten innerhalb des Produktentwicklungsprozesses mit einem Kostenmodell für die relevanten Komponenten (etwa 90 Prozent der Ausgaben werden abgedeckt).
  3. Der Einkauf ist bereit, ohne hundertprozentige Spezifikationen, aber mit klar definierten Anforderungen an die Lieferanten heranzutreten.
  4. Komplexitätsreduzierung und Modularisierung sind Teil der internen Zielsetzung von Einkauf und Entwicklung; der Einkauf ist der Gatekeeper für neue Produktvarianten.

Die Rolle des Einkaufs hängt von der Art des Entwicklungsprozesses ab: Wenn es sich um eine inkrementelle Änderung handelt (d. h. eine neue Variante eines bereits entwickelten Produkts), unterstützt der Einkauf bei Bedarf; wenn eine neue Technologie oder eine neue Produktlinie entwickelt wird, ist der Einkauf stark involviert.

Eine Befreiung, die sich rechnet

Bei der Einführung von «Design for Sourcing» ist mit Widerständen zu rechnen. Pilotprojekte nehmen ihnen den Wind aus den Segeln. Weder wird die Einkaufsabteilung zur besseren Entwicklungsabteilung noch wird der Einkauf von der Entwicklung geschluckt. Im Gegenteil profitieren beide in ihrer Eigenständigkeit und der neuen Perspektive. Wir sehen, dass viele Spezifikationen über Jahrzehnte nicht angepasst wurden. Da kann es auch für die Entwicklung befreiend sein, sie infrage zu stellen und mit den Marktbedingungen abzugleichen. Und es geht auch nicht darum, die Kosten gegen die Produktqualität oder die Verfügbarkeit auszuspielen «Design for Sourcing» zielt auf Kosten, Qualität und Verfügbarkeit zugleich.

In unserer Studie «Assessement of Excellence in Procurement» sehen wir grosse Unterschiede in der frühen Einbindung des Einkaufs. Viele technologieaffine Unternehmen haben bereits ihre «heiligen» Entwicklungshallen für den vermeintlich nur auf Kosten schauenden Einkauf geöffnet. Die positive Korrelation zum Unternehmenserfolg gibt ihnen recht.

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